Der Gebäudematerialpass: Wissen, was drinsteckt

Ein Materialpass dokumentiert alle in einem Gebäude verbauten Werkstoffe und Produkte. Dadurch entsteht Transparenz – und die bietet neue Bewertungsmöglichkeiten für die Recyclingfähigkeit einer Immobilie. Das Potenzial ist riesig.

Aus welchen Materialien ein Gebäude im Einzelnen besteht, ist meist unbekannt. Erst beim Abriss wird offenbar, welche Roh- und nicht selten auch gesundheitsbedenklichen Stoffe in der Immobilie stecken. Für eine qualitativ hochwertige Wiederverwendung ist es dann zu spät.

Von Beton über Backsteine bis Fliesen: Zwar wurden von den rund 74 Millionen Tonnen, die im Jahr 2018 an mineralischen Abfällen aus Bauschutt und Straßenaufbruch in Deutschland anfielen, rund 60 Millionen Tonnen recycelt. Jedoch kamen die aufbereiteten Baustoffe vorwiegend als Gesteinskörnungen im Straßen-, Erd- und Deponiebau zum Einsatz, wurden also „downrecycelt“. Im Hochbau spielten sie kaum eine Rolle. Ähnlich verhält es sich mit Altholz, Glas und kunststoffbasierten Produkten wie Bodenbeläge oder Dämmung. Für sie alle heißt es am Ende eines Gebäudelebenszyklusses in der Regel: Ab in den Müll. Denn für ein „zweites Leben“ in gleicher Qualität sind sie nicht gemacht.

Gebäudematerialpass: Transparenz bis zur kleinsten Schraube 

Echter Ressourcenschutz sieht anders aus und muss künftig auch anders aussehen: 22 Prozent des Rohstoffverbrauchs gehen hierzulande auf das Konto der Bauwirtschaft, die damit Platz Eins der ressourcenintensiven Wirtschaftssektoren belegt. Zugleich ist sie der größte Müllverursacher. 2018 summierte sich die Bauabfallmenge auf rund 228 Millionen Tonnen. Eine Verschwendung, die in Anbetracht der Notwendigkeit eines wirksamen Umwelt- und Klimaschutzes nicht länger haltbar ist.

Ein Gegenmittel kann der Gebäudematerialpass sein, mit dem es keinen Abfall mehr geben soll. Der Ausweis ist ein Werkzeug, das ermöglicht, die Wiederverwendbarkeit von Materialien bereits in der Planung zu berücksichtigen, damit diese nach dem Abriss recycelt und in gleicher Qualität erneut verbaut werden können. Bis zur kleinsten Schraube lässt sich dokumentieren, welches Material und welches Produkt von welchem Hersteller stammt.

Ist das Bauwerk fertiggestellt, informiert der Pass anhand von farbigen Kreisdiagrammen über die Demontagefähigkeit oder Materialverwertbarkeit einer Immobilie. Grün signalisiert eine durchweg positive Bewertung. Bei Gelb sind die Chancen eher mittelprächtig. Rot bedeutet, dass es Probleme gibt. Was sonst einer „Black Box“ gleicht, ist auf einen Blick ersichtlich: die Rcyclingfähigkeit und Ressourceneffizienz eines Gebäudes. So werden Immobilien zu Wertstoffdepots, die unendlich oft um- und rückbaubar sind, ohne je Müll zu hinterlassen.    

Wertschöpfungskette verändert sich  

Der Materialpass ist das Ergebnis des 2015 gestarteten, dreijährigen EU-Forschungsprojektes „Building as Material Banks“ (BAMB), an dem 15 europäische Unternehmen sowie Universitäten und Forschungsinstitute beteiligt waren. Aus Deutschland brachten Drees & Sommer und die TU München ihr Praxiswissen aus ersten „Cradle-to-Cradle“-Projekten ein, wie der Verwaltungsneubau der RAG-Stiftung auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen und der Rathaus-Neubau der niederländischen Stadt Venlo.

Zunächst entwickelte das Team eine BIM-fähige Systematik und Datenbank, damit die Informationen aus einem BIM-Modell verlustfrei in einen elektronischen Materialpass zu transferieren sind und sich diese umgekehrt aus einem Materialpass in ein BIM-Modell exportieren lassen. Dann wurde an Baukonstruktionen mit recyclingfähigen Materalien getüftelt. Der inzwischen marktreife Ausweis stößt zunehmend auf Interesse bei Bauherren und Projektentwicklern.

In diesem Jahr stelle man voraussichtlich acht Pässe aus, schätzt Markus Diem, Leiter des Hamburger EPEA-Büros, ein Tochterunternehmen von Dress & Sommer. Im nächsten Jahr dürften es vermutlich mehr als 20 werden, darunter der für das Holz-Hybridgebäude „The Cradle“ in Düsseldorf. Überdies ist der Materialpass für das in der Hamburger Hafencity entstehende „Moringa“ in der Pipeline, das erste nach Cradle-to-Cradle-Prinzipien konzipierte Wohngebäude Deutschlands.

„Der Materialpass ist ein wichtiges Instrument, das die erforderliche Transparenz zur Etablierung der Circular Economy im Immobilienbereich schafft.“ Judith Busa, Teamleiterin Real Estate im Hamburger EPEA-Büro

Mit ihm lasse sich nicht nur die Kreislauffähigkeit von Materialien stichhaltig nachweisen, was Pluspunkte für eine DGNB-Zertifizierung bringe, sondern er erlaube zugleich Rückschlüsse auf den Restwert der Rohstoffe, die in einem Gebäude stecken, so Busa.

Ein Grundbuch für Materialien?

Die Online-Plattform Madaster („Material“ und „Kataster“) führt den Transparenzgedanken noch einen Schritt weiter. „Madaster stellt ein digitales Grundbuch dar, in dem die Daten aus Gebäudematerialpässen inventarisiert sind, um so die Kreislaufwirtschaft bei Neu-, Um- und Rückbau zu organisieren“, erläutert Dr. Patrick Bergmann, Geschäftsführer von Madaster Germany.

Je mehr bei mitmachten, um so größer werde der Materialpool und die Wertschöpfungsmöglichkeiten. In den Niederlanden, in der das als gemeinnützige Stiftung organisierte Kataster seit September 2017 freigeschaltet ist, befänden sich Materialdaten von rund 2.000 Gebäuden bereits auf der Plattform. Beispielsweise hat die Triodos Bank dort alle Produktinformationen des neu gebauten, 13.000 Quadratmeter umfassenden Hauptsitzes in Zeist nahe Utrecht hinterlegt.

Die Bank residiert also praktisch in einer „Materialbank“, deren Werte als Anlagevermögen dienen oder anderweitig kapitalisiert werden können. In Deutschland zählt das Netzwerk derzeit rund 20 strategische Partner (sogenannte „Kennedys“), zu denen unter anderem Arup, Becken Development, Buwog Bauträger, Drees & Sommer, EDGE Technologies, Holcim und Schüco gehören. Vor kurzem hat sich auch die Berlin Hyp angeschlossen und will sich mit ihrer Expertise in den Bereichen Bankwesen und Finanzierung einbringen, um die Realisierung kreislauffähiger Gebäude zu ermöglichen und die Wiederverwendung von Materialien zu fördern. Darüber hinaus arbeite man gemeinsam mit EPEA, Commerz Real und anderen an der genauen Materialerfassung von Bestandsbauten, berichtet Bergmann. Allerdings sei eine Lösung hierzfür zu finden deutlich komplizierter, zumal der Aufwand noch in keiner Relation zum Nutzen stünde.

EPEA-Chef Diem geht davon aus, dass die Relevanz von Materialausweisen weiter steigen wird: „Aus unser Sicht dürften Gebäudematerialpässe für den Neubau perspektivisch den gleichen Stellenwert bekommen, wie ihn Energieausweise haben“. Dann wären sie beim Bauantrag – und später bei Vermietung und Verkauf – obligatorisch. Aus der jetzigen Kür, könnte in nicht all zu ferner Zukunft also eine Pflicht werden. Höchst Zeit für die Immobilienbranche, zu wissen, was in ihren Gebäuden steckt.

Quelle: haufe.de

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