Die Wähler der Hauptstadt haben sich in einer Volksabstimmung dafür ausgesprochen, große Wohnbestände zu vergesellschaften. Was auf Mieter und Konzerne nun zukommen könnte.
Berlin, Frankfurt Bis zuletzt schenkten sich die Kontrahenten nichts. „Unterstütze unser Volksbegehren, und hilf uns dabei, Berlin zu retten“, warb die Initiative „Enteignet Deutsche Wohnen & Co“ lautstark um Unterstützung. Das Anliegen sei „unfassbar falsch“, der Stadt drohe ein Verfall wie in Kuba, warnte dagegen noch vor wenigen Tagen der Chef des Immobilienkonzerns LEG, Lars von Lackum.
Doch die Wahlberechtigten in der knapp vier Millionen Einwohner-Metropole schlugen die Mahnung in den Wind. Bei der Volksabstimmung darüber, ob Berliner Wohnungsbestände von großen Immobilienkonzernen vergesellschaftet werden, setzte sich die Initiative durch. Doch welche Folgen hat das Ergebnis? Und was ist juristisch überhaupt möglich? Im Folgenden ein Überblick über die wichtigsten Fragen und Antworten.
Muss der Senat jetzt ein Gesetz erarbeiten?
Nein, sagt der Berliner Staatsrechtler Ulrich Battis, der für den Verein „Neue Wege für Berlin“ ein Rechtsgutachten erstellt hat. Der neue Senat könne nach reiflicher Überlegung der Rechtslage zu dem Schluss kommen, dass ein solches Gesetz verfassungsrechtlich hochriskant sei, so Battis. Davon gehe er aus. Battis ist emeritierter Professor an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und Rechtsanwalt in der Kanzlei GSK Stockmann.
Die Initiative beruft sich auf Artikel 15 des Grundgesetzes. Dort heißt es: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Angewandt wurde das Gesetz aber noch nie.
Wie schnell könnte eine Enteignung kommen?
Die Initiative hat keinen Gesetzentwurf zur Abstimmung gestellt, sondern lediglich eine Aufforderung an den Senat formuliert. Das Ergebnis der Abstimmung ist quasi eine Beratungsgrundlage für die Parteien, die nach der Wahl jetzt über eine Koalition verhandeln müssen.
Es wird deshalb vor allem davon abhängen, welche Regierung sich nach den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus herauskristallisiert, wie es mit den Enteignungsplänen weitergeht. So hat sich der bisherige Berliner Senat bislang nicht eindeutig zu den Enteignungsplänen positioniert, da die Koalitionspartner SPD, Linke und Grüne in dieser Frage gespalten sind. So gibt es auch in der SPD Stimmen, die Enteignungen befürworten. Spitzenkandidatin Franziska Giffey erteilte solchen Überlegungen allerdings eine klare Absage. Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am Sonntag erreichte dem vorläufigen amtlichen Endergebnis zufolge die SPD 21,4 Prozent, während die Grünen mit 18,9 Prozent 2,5 Punkte dahinter lagen.
Wäre ein Gesetz überhaupt umsetzbar?
Staatsrechtler Battis verneint das. „Es bestehen gewichtige rechtliche Zweifel an der Umsetzbarkeit eines positiven Volksentscheids.“ Die von der Initiative geforderte Vergesellschaftung wäre ein unverhältnismäßiger Eingriff in privates Eigentum und verstieße gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil nur Wohnungsbestände ab einer Schwelle von 3000 Wohnungen vergesellschaftet werden sollen.
Auch Esfandiar Khorrami von der Kanzlei Bottermann Khorrami zweifelt an der Umsetzbarkeit. Eine Vergesellschaftung nach dem Grundgesetz sei erst denkbar, wenn alle anderen Instrumente zur Entspannung der Mietwohnungsmärkte in Berlin erschöpft wären. Dazu zähle allerdings auch der noch ausbaufähige Neubau, so Khorrami. Falls sich eine Parlamentsmehrheit für ein Gesetz finden sollte, würden jahrelange Rechtsstreitigkeiten folgen.
Um wie viele Wohnungen geht es?
Nach dem Willen der Initiative sollen mehr als 200.000 der rund 1,5 Millionen Mietwohnungen in Berlin in den Besitz einer Anstalt des öffentlichen Rechts überführt werden. Sie gehören mehr als einem Dutzend Immobilienunternehmen. Hauptbetroffener wäre der börsennotierte Immobilienkonzern Deutsche Wohnen. Er besitzt bundesweit rund 158.000 Wohnungen, darunter 116.000 in Berlin, und ist oft wegen seines Umgangs mit Mietern in den Schlagzeilen.
Die Initiative zielt mit der Enteignungsidee darauf ab, „Spekulanten“, die Mieten in die Höhe treiben, einen Riegel vorzuschieben. Mit einer „Vergesellschaftung“ könne langfristig bezahlbarer Wohnraum gesichert werden, argumentiert die Initiative. Der Vorstoß solle eine Blaupause auch für andere Regionen in Deutschland sein.
Was sagt die Immobilienwirtschaft?
Die Wohnungskonzerne lehnen eine Enteignung rigoros ab – und warnen vor den Folgen. So warnt Roman Heidrich, Experte für Immobilienbewertungen bei Jones Lang LaSalle: „Höchst wahrscheinlich könnte es als direkte Reaktion zu einem sofortigen Stopp der meisten Investitions- und Modernisierungspläne führen, mit Auswirkungen auf die langfristige Bewirtschaftung der betroffenen Immobilien.“
Diplomatischer gibt sich dagegen der größte deutsche Wohnkonzern Vonovia, der gerade den Rivalen Deutsche Wohnen übernehmen will. „Vonovia wertet die erfolgreiche Volksabstimmung als weiteres Zeichen dafür, dass sich die Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt dringend ändern muss“, teilte der Dax-Konzern mit. „Eine Enteignung würde die Situation jedoch nicht verbessern, sondern nur verschlimmern.“
Sind die Berliner wirklich für eine Enteignung?
Trotz positiven Volksentscheids: Die Mehrheit der Berliner stehe einer Enteignung von Wohnungsunternehmen und -genossenschaften kritisch gegenüber, meint der Verein „Neue Wege für Berlin“. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag des Vereins habe gezeigt, dass nur 23 Prozent der Befragten die Enteignung für ein geeignetes Instrument hielten, um die Situation für Mieter und Wohnungssuchende in Berlin zu verbessern. 68 Prozent halten den Neubau bezahlbarer Wohnungen für das beste Instrument. Civey hat insgesamt 506 Berlinerinnen und Berliner vom 16. bis 22. September befragt.
Wie erklärt es sich, dass dennoch die Mehrheit für eine Enteignung gestimmt hat?
Es wird vermutet, dass viele Menschen angesichts steigender Mieten und Preisen ein Zeichen setzen wollten, damit das Bewusstsein in der Politik für den Wohnungsmarkt steigt.
Hat der Volksentscheid gar keine Konsequenzen?
Doch, findet der Jurist Battis. Die Initiative habe schon einiges bewirkt. Über Parteigrenzen und sämtliche gesellschaftliche Gruppen hinweg sei Wohnen bundesweit zu einem der beherrschenden Themen geworden. Im Wahlkampf seien die Themen mehr denn je in den Fokus gerückt. Gestritten werde über regulierende Maßnahmen der Politik und über den Wohnungsbau.
Der Verkauf eines großen Berliner Wohnungsportfolios der Immobilienkonzerne Vonovia und Deutsche Wohnen an den Berliner Senat sei auch eine Folge dieser Initiative, ist Battis überzeugt. Die vor einer Fusion stehenden Wohnungsriesen Vonovia und Deutsche Wohnen hatten jüngst für 2,46 Milliarden Euro Immobilien in Berlin an die öffentliche Hand veräußert. Die öffentlichen Wohnungsgesellschaften Degewo, Howoge und Berlinovo kauften insgesamt rund 14.750 Wohnungen. Hinzu kommen rund 450 Gewerbeeinheiten.
Wie geht es weiter auf dem Berliner Wohnungsmarkt?
Der rot-rot-grüne Senat war in den vergangenen Jahren eher einseitig auf die Regulierung der Mieten und auf Bestandswahrung fokussiert. „Wohnungsbau hat derzeit in Berlin keine Priorität“, sagte Michael Voigtländer vom IW Köln vor wenigen Tagen auf einer Online-Pressekonferenz des Berliner Beratungsunternehmens Rueckerconsult. Das zeige auch ein Blick auf die Aktivitäten in den anderen deutschen Metropolen. Demnach wurden in Berlin in den vergangenen fünf Jahren im Schnitt 4,6 Wohnungen je 1000 Einwohner gebaut. Hamburg sei in diesem Zeitraum auf 5,2 Wohnungen je 1000 Einwohner gekommen, München auf 5,6 und Frankfurt auf 6,2.
Die Fertigstellungszahlen für Wohnungen waren 2020 erstmals seit 2009 wieder rückläufig. „Die Berliner Bauaufsichtsbehörden meldeten 16.337 fertiggestellte Wohnungen und damit rund 14 Prozent weniger als im Jahr zuvor“, mahnt Jacopo Mingazzini, Vorstand von The Grounds. Spiegelbildlich entwickle sich die Bau- und Genehmigungstätigkeit im benachbarten Brandenburg. Während in Berlin im ersten Halbjahr 2021 die Genehmigungszahlen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um fast 30 Prozent zurückgingen, stiegen sie in Brandenburg um 15 Prozent.
Investoren mahnen vor allem dringend, Ruhe in die aufgeheizte Debatte zu bringen. „Der gute, schutzbedürftige Mieter auf der einen Seite, der böse, raffgierige Vermieter auf der anderen“, sagt Jürgen Michael Schick, Präsident des IVD Immobilienverband Deutschland. „Diese Konfrontation führt zu nichts und ist fernab der Realität.“
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Quelle: handelsblatt.com